von Christina Kehl
Dieser Artikel erschien im Original im Mai 2019 auf https://themarket.ch/.
Vor 50 Jahren begann eine der vielleicht grössten Revolutionen der Menschheitsgeschichte ganz leise und unbemerkt in Kalifornien. An der UCLA in Los Angeles war der Informatik-Professor und MIT Absolvent Leonard Kleinrock mit dem Aufbau des ersten Internet-Netzknotens betraut. Am 29. Oktober 1969 sollte dieser zum ersten Mal getestet und eine Verbindung zum zweiten Netzwerkknoten in Stanford hergestellt werden. Zufolge eines Interviews von KTLA 5 mit Dr. Kleinrock verlief dieser Test wie folgt.
Er und seine Studenten berieten zunächst welche Testnachricht an die Kollegen in Stanford geschickt werden sollte: man einigte sich auf das Wort “Login”.
Das Team um Prof. Kleinrock tippte das L ein, fragte telefonisch „Do you see the L“ und die Antwort der Stanford Gruppe lautete „Yes we see the L“.
Dann tippten sie das O, fragten „Do you see the O“ und Stanford antwortete „Yes we see the O“. Dann tippten sie das G und das System brach zusammen. Der Anfang des Internets begann also mit einem Absturz.
Der zweite Verbindungsversuch war schliesslich erfolgreich und doch war sich Professor Kleinrock im Jahr 1969 wohl nicht bewusst, welche Revolution er mit dieser erstmaligen Verbindung lostreten würde. Die Teams aus Los Angeles und Stanford legten an diesem Tag den Grundstein für die Vernetzung von Computern - und damit für das Internet, das die Welt seitdem in 50 Jahren grundlegend veränderte.
Das Entstehen einer Digital Society
Laut dem Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich nutzten im Jahr 2018 90% der Schweizer/innen das Internet täglich. Im Durchschnitt verbringen wir fast vier Stunden pro Tag im Netz. Damit ist das Internet das meistgenutzte Medium in der Schweiz.
Diese Zahlen sind wenig überraschend, wenn man den Vernetzungsgrad und die Internationalisierung fast aller Arbeitsbereiche im Jahr 2019 in Betracht zieht. Viele Aufgaben im wissensbasierten Dienstleistungssektor sind ohne Online-Kollaboration und -Kommunikation nicht mehr denkbar. Das Internet trug in den vergangenen zwanzig Jahren zu einem Modernisierungsschub in vielen Wirtschaftsbereichen sowie zur Entstehung neuer Wirtschaftszweige bei. Gleiches gilt für Hochschulstudiengänge und Forschungseinheiten, die international eingebunden und auf schnellen Wissenstransfer angewiesen sind.
Doch der Verweis auf Wirtschaft und Wissenschaft soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Digitalisierung, die mittlerweile Synonym für globale Vernetzung und Technologisierung ist, weitaus grössere Auswirkungen auf unsere Gesellschaft hat, als hinlänglich bewusst und anerkannt. Die Verbreitung des Internets hat zu umfassenden Umwälzungen in vielen Lebensbereichen geführt.
So kaufen bereits heute drei von vier Schweizern online ein, 75% aller Internetnutzer informieren sich online über ihre Gesundheit und selbst das soziale Leben oder die Partnersuche finden zu beachtlichen Teilen online statt.
Bildlich gesprochen hat sich neben unserer erlebbaren, fühlbaren und sichtbaren analogen Welt eine digitale Zusatzebene gebildet. In dieser wird gearbeitet, geforscht, geredet, gedated, gehasst, gekauft, gefühlt, gelesen - kurzum in dieser digitalen Parallelwelt wird “gelebt”.
Doch wurden die Spielregeln der analogen Welt in den vergangenen 50 Jahren nicht den digitalen Entwicklungen angepasst bzw. es wurden keine neuen für diese digitale Parallelwelt erstellt. Unter Spielregeln sind sowohl nationale wie internationale Rechtsordnungen, aber auch die Anwendbarkeit von gesellschaftsspezifischen Werten und Überzeugungen zu verstehen. Es ist ein bedingt rechtsfreier digitaler Raum entstanden, in dem die Gestaltungsmacht denjenigen zukommt, die die Grauzonen dank Technologien und der daraus entstehenden allgemeinen Tech-Hype-Verwirrung am effektivsten für sich nutzen können.
Wer gestaltet die digitale Welt?
Die Politik überlässt das Feld der Gestaltungsarbeit unserer digitalen Zukunft derzeit weitgehend den grossen Konzernen und Techgiganten wie Google, Amazon, Apple, Facebook und Microsoft sowie Alibaba, Huawei oder Tencent. Dies obgleich diese Unternehmungen zu keinem Zeitpunkt nach dieser Verantwortung gefragt haben. Sie entwickeln Technologien und Produkte. Neu ist allerdings, welchen Einfluss diese Produkte auf das gesamtgesellschaftliche Zusammenleben haben und mit welcher Geschwindigkeit sie unsere Lebensrealitäten verändern. Die Politik wirkt dadurch wie ein Kapitän auf einem Schiff, dessen Kurs vom Maschinenraum statt von der Brücke vorgegeben wird.
Die zukunftsgestaltenden Unternehmen sind weiter profitorientierte Firmen, ohne jegliche demokratische Legitimation. Diese Entwicklung gipfelte in den vergangenen Monaten in einem (Hilfe-)Ruf von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg nach mehr staatlicher Regulierung der Technologiebranche.
Wohl auch aufgrund der hohen Geschwindigkeit, der vermeintlichen Technologiekomplexität und der globalen Auswirkungen der Digitalisierung sehen sich viele Volksvertreter und staatliche Institutionen heute kaum mehr in der Lage die aktuellen Entwicklungen vollumfänglich und zeitnah in positive Zukunftsvisionen zu münzen. Zudem stehen wir als Gesellschaft vor der Herausforderung, dass unsere heute gewählten Volksvertreter und Unternehmenslenker fast zu 100% keine “Digital Natives” sind und in einer Zeit des Verwaltens sozialisiert und politisiert wurden. Wirtschaftlich war es in den vergangenen Jahrzehnten um die Schweiz gut bestellt. Weshalb in der Politik verständlicherweise die Neigung zu einem Festhalten-wollen spürbar ist. Dabei wird vergessen, dass wir unsere gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Errungenschaften nur erhalten können, wenn wir uns den neuen Gegebenheiten anpassen und den Kurs neu festlegen.
Visionen für die Zukunft
Die derzeitigen populistischen und rückwärtsgewandten Tendenzen in Wahlen und Abstimmungen sind ein deckungsgleicher Ausfluss aus dieser fehlenden politischen Visionskraft. Universalhistoriker und Autor Yuval Noah Harari sagt dazu: „Das Rückwärts zieht Menschen an, weil niemand eine Vision fürs Vorwärts hat.“
Es liegt nun an uns als Gesellschaft diese Visionen für eine lebenswerte, menschenwürdige, digitale Zukunft zu entwickeln.
Wir müssen aufhören wie Rehe im Scheinwerferlicht zu stehen, die angstvoll in die Zukunft schauen.
Es braucht Wissen ob des technologischen Wandels.
Es braucht gesellschaftliche Verantwortung, Mut und Gestaltungswillen.
Dies müssen wir als Bürger von Politik und Verwaltung einfordern. Denn auch im Jahr 2019 gilt ganz im Sinne der traditionellen europäischen Werte und Überzeugungen nach Jean-Jacques Rousseau, dass nur das Volk, und nicht Google, Facebook oder Apple, die unteilbare und unveräußerliche Souveränität inne hat. Dieser Grundsatz der Volkssouveränität muss auch endlich für die digitale Welt gelten und durchgesetzt werden.
Ziel der “Digital Society” Kolumne soll in Folge das Aufzeigen positiver gesellschaftlicher Visionen sein. Sie soll zudem ein Weckruf sein, Verantwortung zu übernehmen und die digitale Gesellschaft lebenswert und humanistisch zu entwickeln.
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Christina Kehl ist eine der führenden Schweizer Unternehmerinnen im Digitalbereich und Vordenkerin der digitalen Transformation. Als Startup-Gründerin und Fintech-Expertin tritt Christina regelmässig in den Medien oder bei Diskussionsrunden und Konferenzen auf. Zudem ist Christina ist Initiatorin, Mitgründerin und Partnerin bei Pixpolitico - einer digitalen Strategieberatung für Institutionen in Zürich. Im Jahr 2017 wurde Christina als jüngstes Mitglied in den neu gegründeten Beirat für Digitale Transformation des Schweizer Bundesrates von WBF (Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung) und UVEK (Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation) berufen.
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