Die Jungfreisinnigen haben nach eigenen Angaben 145'000 Unterschriften für längeres Arbeiten zur Rettung der AHV bei der Bundeskanzlei eingereicht. Bundesrat, Parlament und die Bevölkerung sollen nun der längst überfälligen Diskussion nicht länger aus dem Weg gehen. Wie sich die Renten gerecht finanzieren lassen, ist wohl in Sachen Sozialversicherungen eine unserer zentralsten Fragen und insofern ist das Auslösen der Diskussion mehr als begrüssenswert.
Wir alle schätzen, dass sich die Lebenserwartung nach der Pensionierung seit Einführung der AHV im Jahr 1948 von 13 Jahre auf 21 Jahre erhöht hat. Noch mehr schätzen wir wohl, dass sich die durchschnittliche Jahresarbeitszeit von 2'400 Stunden im Jahr 1950 auf unter 1'500 Stunden im Jahr 2019 reduziert hat. Länger Leben und weniger Arbeiten - Schweizerinnen und Schweizer leben im Paradies!
Das Paradies hat einen Namen: Technologischer Fortschritt. Sei es im Gesundheitswesen, sei es in Sachen Mobilität, sei es bei der täglichen Arbeit. Wer möchte noch in einer Fabrik im 19. Jahrhundert über 60 Stunden pro Woche arbeiten - niemand! Nun vermitteln uns die Jungfreisinnigen eine nicht so paradiesische Zukunftsperspektive. Wir sollen nämlich trotz technologischem Fortschritt länger und nicht weniger arbeiten. In dieser Logik soll technologischer Fortschritt nicht zu mehr Lebensqualität und letztlich zu weniger Jahresarbeitszeit führen. Da drängt sich doch die Frage auf: Weshalb betreiben wir dann eigentlich den ganzen Aufwand in Forschung und Entwicklung?
Der gegenwärtige Strukturwandel bedingt zudem, dass die Rentenalterdiskussion um die Themengebiete "lebenslanges Lernen" und "digitale Bildung" zu erweitern ist. Wer nämlich nicht über die entsprechenden Kompetenzen verfügt, wird erst gar nicht am digitalen Arbeitsmarkt partizipieren können. Die Diskussion über ein höheres Rentenalter erübrigt sich in diesem Moment von selbst. Ferner ist die Diskussion um Anreize für freiwillige Erwerbsarbeit nach 65ig zu ergänzen; tiefe Beitragssätze oder tiefere Besteuerung der Arbeitseinkommen nach 65ig. Mit letzteren würde Altersarbeit für die Arbeitnehmer und -geber attraktiv und würde sich rasch und ohne jeden Zwang durchsetzen. Die so beim Staat anfallenden hohen zusätzlichen Steuererträge könnten statt in den allgemeinen Steuertopf in die Altersvorsorge gelenkt werden.
Bevor wir über Zukunftsängste, weitere Gesetze und Zwängerei sprechen, sollten nun ein öffentlicher Dialog mit der Bevölkerung rund um Arbeit, Bildung, Alter und den Umgang mit dem technologischen Wandel geführt werden.
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