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AutorenbildPixpolitico

Der Wert der Arbeit in einer digitalisierten Welt

von Christina Kehl


Im Original erschienen in der Finanz & Wirtschaft am 22.09.2017


In der AHV-Abstimmung suchen die Schweizer lediglich die Tapeten für ein längst abrissreifes Haus aus. Die Digitalisierung verlangt eine neue Definition von Arbeit und Einkommen.


Am Sonntag stimmt die Schweiz über das Reformpaket zur AHV ab. Ein Reformpaket, das bereits als kurzfristige Übergangslösung konzipiert ist und von dem man bereits jetzt weiss, dass es die Schweizer in weniger als zehn Jahren erneut vor ein enormes Problem stellen wird.

Die taktisch-kurzfristigen Massnahmen und Meinungen im Einzelnen sollen an dieser Stelle gar nicht bewertet werden. Denn die Welt, wie wir sie kennen, steht vor einem tiefgreifenden Umbruch, der mindestens mit dem der industriellen Revolution vergleichbar ist.

In der AHV-Abstimmung suchen wir also lediglich die Tapeten für ein längst abrissreifes Haus aus. Was der Diskussion über die Altersreform insgesamt fehlt, ist der Blick auf die Zukunft, und zwar langfristig, realistisch und mutig.


Doppelt so alt wie das iPhone

Das Modell der Altersvorsorge in der Schweiz scheint in Stein gemeisselt. Schaut man sich aber die Wirtschaft und die Arbeitswelt genauer an, so haben sie sich in der jüngsten Vergangenheit komplett gewandelt.

Es ist gerade einmal 27 Jahre her, dass die Schweiz mit .ch ihre eigene Länderdomain im Internet erhalten hat. Das erste iPhone kam gerade einmal vor zehn Jahren auf den Markt. Seitdem haben Smartphones den Weltmarkt erobert, und die Digitalisierung hat mächtig an Fahrt aufgenommen.

Neue Berufszweige und Branchen sind entstanden, andere sind bereits verschwunden oder sind vom Aussterben bedroht. Hinzu kommt eine immer weitere Verschiebung in der Alterspyramide. Insgesamt werden immer weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter einer wachsenden Zahl von Personen im Rentenalter gegenüberstehen, und die Erwerbstätigkeit ist dabei keiner Weise gesichert.


Vor diesem Hintergrund ist es kaum zu verstehen, dass die letzte Reform auf dem Gebiet der Altersvorsorge doppelt so alt ist wie das erste iPhone von Apple. Und noch unverständlicher ist es, dass die zur Wahl stehende Reform kein revolutionärer Wurf ist. Während die Technologisierung und die Digitalisierung alle Arbeitsmärkte der Welt bereits erfasst haben, will man die Sicherung der Altersvorsorge mit dem Drehen einiger weniger Stellschrauben regeln?


Menschen konkurrieren mit Maschinen

Derzeit werden die Karten völlig neu gemischt. Die Aufteilung der Welt in Industrie- und Entwicklungsstaaten wird in den kommenden Jahren neu ausgehandelt. Der künftige Platz der Schweiz ist dabei keinesfalls gesichert. Die Digitalisierung wird unser aller Leben ebenso tiefgreifend verändern wie einst die industrielle Revolution. Wir haben die Chance, aus der Geschichte Lehren zu ziehen und uns für die digitale Zukunft vorzubereiten.

Die Anzeichen sind bereits deutlich. Die Wirtschaft wird technologisiert und rationalisiert. Bereits jetzt gibt es fast völlig autonome Fabriken. Und der Mensch? Wo bleibt sein Platz, wenn die Maschinen übernehmen?

Derzeit haben wir darauf noch keine Antwort gefunden. Es geht sogar so weit, dass Menschen versuchen, mit Maschinen um Arbeitsplätze zu konkurrieren, immer längere Arbeitszeiten, Lohndumping, Leiharbeit. Doch eine Maschine braucht keine Pause, keinen Urlaub, hat keine Familie. Maschinen sind heute auch nicht mehr nur stärker und schneller, dank Artificial Intelligence und Machine Learning werden sie auch immer schlauer.


Steigende Produktivität, sinkende Stellenzahlen

Es stellt sich also nicht die Frage, wie lange wir werden arbeiten müssen und ab wann wir in den Genuss von Rentenzahlungen kommen. Es stellt sich die Frage, wer überhaupt noch arbeiten wird.

Wäre es nicht auch eine schöne Vorstellung, kollektiv nur auf einem 50%-Pensum zu arbeiten und mit fünfzig in Rente gehen zu können – weil die Maschinen die Wertschöpfung für uns übernehmen?


Während einerseits massenweise Arbeitsplätze wegfallen, steigt andererseits die Arbeitsproduktivität insgesamt kontinuierlich und stark. Wenn wir Maschinen für uns arbeiten lassen können, wieso müssen wir dann immer noch die gleiche Anzahl an Arbeitsstunden und Arbeitsjahren aufbringen, um unser Auskommen zu sichern? Wer profitiert eigentlich von dieser gesteigerten Arbeitsproduktivität?


Statt die Frage zu stellen, wie viel Lohn eine Stunde Arbeit wert ist, sollten wir fragen, wie produktiv eine Stunde Arbeit ist. Wir sind im Zeitalter von Technologisierung, Digitalisierung und Globalisierung – sollte sich da der Arbeitslohn nicht an der Arbeitsproduktivität bemessen?

Während ein Kundendienstmitarbeiter noch vor zwanzig bis dreissig Jahren im Gespräch nur eine Handvoll Anfragen bearbeiten konnte, schafft der E-Mail- oder Live-Chat-Support die x-fache Menge, und mittlerweile wird bereits ein beträchtlicher Teil über automatisierte Prozesse abgewickelt. Die Bezahlung hingegen ist nicht um das X-Fache gestiegen, meist ist es eher das Gegenteil. Eine enorme Produktivitätssteigerung für die Unternehmen, aber Arbeitsplatzverlust für Arbeitnehmer.


Die Digitalisierung verstehen 

Braucht es da nicht dringend völlig neue Modelle, wie wir Arbeit und Einkommen definieren und bemessen? Statt auf den grossen Knall zu warten, sollten wir die Digitalisierung als Chance begreifen. Wenn die Arbeit grösstenteils von Maschinen erledigt wird, muss sich eine Gesellschaft einer Menge wichtiger Fragen stellen: Wie halten wir trotz Digitalisierung die Wertschöpfung in der Schweiz?


Wie lassen wir alle daran teilhaben? Statt also eine Verschiebung des Renteneintrittsalters nach hinten zu diskutieren, müssten wir uns eher fragen: Nur noch 50% Arbeitspensum für alle? Wie definieren wir Leistung in unserer Gesellschaft, wenn nicht mehr über Arbeit?

Die digitale Wertschöpfung der Schweiz ist der Kern unserer finanziellen und wirtschaftlichen Zukunft. Im ersten Schritt ist es essenziell, dass die Schweiz Digitalisierung versteht und den Paradigmenwechsel schafft. Wertschöpfungsketten werden aufgebrochen. Kleine, agile Einheiten, also Start-ups, kommen hier ins Spiel und übernehmen wichtige Teile der neuen Wertschöpfungsketten. Im Zuge der Globalisierung stehen wir im internationalen Wettbewerb der Standorte, und die Wertschöpfung droht jederzeit abzuwandern. Ein Start-up-freundliches, innovationsgetriebenes Ökosystem ist wichtig, um die Wertschöpfung im Land zu halten.


Auf den Stärken aufbauen

Unsere Zukunft wird sich an der Frage klären, ob wir es schaffen, die Schweiz im globalen Wettbewerb der Standorte gegen Tech-Vorreiter wie Singapur, Silicon Valley, Hongkong, London und viele weitere entsprechend zu positionieren. Was ist der USP (Unique Selling Point) der Schweiz in dieser neuen, digitalen Welt?

Noch lässt man die Innovationstreiber leider weitgehend allein, während andere Standorte massiv investieren. Dabei hat die Schweiz die Chance, aus einer stabilen Wirtschaft heraus den Paradigmenwechsel selbst einzuläuten – noch. Ansatzpunkte gibt es viele: Land der digitalen Grundrechte, Land der Datensicherheit, Cybersecurity, Fintech & Crypto und vieles mehr. Basierend auf ihren traditionellen Stärken könnte die Schweiz ihre internationalen USP schärfen und ausbauen.

Im nächsten Schritt braucht es ein System der Umverteilung, da der Lohn als Umverteilungsmechanismus in vielen Fällen wegfallen wird. Es darf nicht sein, dass nur einige wenige die komplette digitale Wertschöpfung für sich verbuchen und der grosse Rest zu den Verlierern der vierten industriellen Revolution erklärt wird.


Leistung wird sich nicht länger in Arbeitsstunden messen lassen. Es ist an der Zeit, revolutionäre, neue Gedanken in der Diskussion zuzulassen. Das Grundeinkommen ist nur eine Idee und mag womöglich nicht die Lösung sein.


Aber die Idee ist insofern wichtig, als wir anfangen, unsere Köpfe für komplett neue Gesellschaftsordnungen zu öffnen. Wir werden sicherlich nicht im ersten Wurf das Allheilmittel finden, es wird Fehlschläge geben, manche Konzepte werden sich als nutzlos oder gar kontraproduktiv erweisen. Doch wir müssen uns trauen, neue Wege einzuschlagen.

Wie die Abstimmung zur AHV am Sonntag ausgeht, wird demnach nicht wirklich bestimmend für die  Zukunft der Schweiz sein. Um es mit Richard David Precht zu sagen: »Wir dekorieren auf der ‹Titanic› die Liegestühle um.»


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Christina Kehl ist eine der führenden Schweizer Unternehmerinnen im Digitalbereich und Vordenkerin der digitalen Transformation. Als Startup-Gründerin und Fintech-Expertin tritt Christina regelmässig in den Medien oder bei Diskussionsrunden und Konferenzen auf. Zudem ist Christina ist Initiatorin, Mitgründerin und Partnerin bei Pixpolitico - einer digitalen Strategieberatung für Institutionen in Zürich. Im Jahr 2017 wurde Christina als jüngstes Mitglied in den neu gegründeten Beirat für Digitale Transformation des Schweizer Bundesrates von WBF (Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung) und UVEK (Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation) berufen. 


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